Ein Jahr im Haus St. Martin
Mit 30 Jahren etwas neues wagen. Den alten Weg, der in die Sackgasse geführt hat, verlassen und sich selbst an einer Arbeit ausprobieren, die ein Segen für die Schwächsten in unserer Gesellschaft ist und dabei einen neuen Weg für die eigene Zukunft finden. Das war meine Motivation, als ich im Herbst 2021 den Bundesfreiwilligendienst im Haus St. Martin antrat.
Mein Name ist Robert Bauer und ich blicke auf eine gute Zeit in der Gruppe "Villa Kunterbunt" zurück. Ich besaß keinerlei Vorerfahrungen, hatte noch nie ein Kind gewickelt oder einen anderen Menschen gepflegt, geschweige denn im Alltag begleitet oder gefördert, aber die Kolleginnen auf der Gruppe haben mit Geduld und Einfühlungsvermögen meine Einarbeitung gestaltet und mir die Bewohner vorgestellt. So lernte ich in der ersten Woche sehr viel über die Pflege und Betreuung der Kinder und wurde befähigt, den Alltag meiner Schutzbefohlenen selbstständig zu gestalten. Zudem lernte ich die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten kennen und erledigte zum Beispiel das Herrichten der Nahrung, das Wegbringen und das Einsortieren der Wäsche, die Bestellung des täglichen Essens und der Lebensmittel sowie die Müllentsorgung, wann immer es nötig war.
Die "Villa Kunterbunt" ist eine Gruppe auf der insgesamt elf Bewohner*Innen im Alter von fünf bis einundzwanzig Jahren leben, die ich im Laufe meiner Zeit im Haus kennenlernen durfte. Zunächst kümmerte ich mich das erste halbe Jahr um zwei Jungen und lernte ihre Eigenheiten, Vorlieben und Abneigungen, Freuden und Ängste, Möglichkeiten und Einschränkungen, immer besser kennen und in meinem Kopf wurden aus "Kindern mit Behinderungen" Persönlichkeiten "wie du und ich". Die schönsten Tage meiner Arbeit waren solche, an denen ich Zeuge strahlender Augen und herzlichem Lachen wurde. Und die schlimmsten Tage solche, an denen ich einen Bewohner allein in Quarantäne wegen COVID-19 auf seinem Zimmer zurücklassen musste, nachdem ich ihn umsorgt und getröstet hatte, um mich um ein anderes Kind zu kümmern. Nähe und Distanz in Balance zu halten - den Bewohnern ein vertrauensvoller Freund sein und gleichzeitig "nur ein Pfleger" zu bleiben - gehört zu den großen Herausforderungen dieses Berufs und ich bin dankbar, dass wir Freiwillige auch in diesem Bereich Schulung durch den Caritasverband erhalten haben.
In der zweiten Hälfte meines Freiwilligendienstes lernte ich zwei weitere Bewohner kennen und gewann mehr und mehr an Flexibilität und Routine. Neben dieser gab es jedoch auch immer wieder besondere Ereignisse: Feste und Geburtstage wurden gefeiert, der Mainzer Weihnachtsmarkt besucht, Konzerten gelauscht und die Ostermesse in der benachbarten St. Remigius Kirche erlebt, um nur ein paar zu nennen.
Ich habe mich in meiner Zeit im Haus St. Martin nie alleingelassen oder hilflos gefühlt, bin in ein großartiges Team hineingewachsen, das mich stets unterstützt hat, wenn ich Fragen hatte oder Hilfe brauchte und bin dankbar, dass mir immer wieder die Möglichkeiten geboten wurden, Einblicke in die Arbeit der Therapeut*innen im Haus zu bekommen.
Im September 2022 beginne ich meine Ausbildung zum Logopäden. Das freiwillige Jahr im Haus St. Martin war ein guter Übergang auf meinem neuen Weg und ich werde die Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, nicht vergessen.